Dumont Verlag, Köln 2024, 190 Seiten
Wie eine junge Frau aus einem unansehnlichen Provinznest die Welt für sich
erobert.
Was in der Politik passiert, was es sonst an Nachrichten gibt, liefert
Anlässe und Stoff fürs Erzählen wie ein unablässiger Strom.
Dabei gilt das Motto: „Alles ist gewesen, nichts war genau so.“
udith Kuckart hat ihren Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ genannt. Damit verweist sie von vornherein aufs Private, aufs Unspektakuläre, auf das scheinbar Bedeutungslose. Man soll wohl nichts zu Großes erwarten, aber für die Erzählerin ist es natürlich das Wichtigste: Sie selbst. Sie will von nichts Geringerem erzählen als ihrem eigenen Weg in die Welt und lässt immer wieder erkennen, wie die jeweilige politische Gegenwart über die Jahre hinweg in ihre Romane eingeflossen ist. Das waren dann Aspekte, Elemente, aus denen sie jeweils eine Handlung oder genauer: die Schicksale ihrer Romanfiguren geformt hat.
Außer dem eigenen Leben begleiten zwei parallele Erzählungen die junge Frau aus Schwelm bei Wuppertal, die Einzelkind bleibt und, damals noch Kind, ihre Mutter nach Fehlgeburten am Krankenbett mit „Bärenmarke“ wieder stark werden lassen will. Die parallelen Leben sind die der etwas älteren Nachbarin Eva K., die die junge Judith zu Beginn fördert wie eine Mäzenin, ihr Ballettstunden organisiert und sie darin betreut, und sie auf die Idee bringt, Tanztheater zu machen. Und das von Ina Siepmann, die dieselbe Schule in Schwelm besucht hat, später als Terroristin gesucht wurde und wohl im Libanon verschollen ist. Mit Eva K. führt die Erzählerin einen fortwährenden Austausch, bei dem nicht zu erkennen ist, ob es erinnerte Wortwechsel sind oder verinnerlichte Gedankengänge in Dialogform. Es betrifft immer den weiteren Werdegang, die Rückblicke und Selbsteinschätzungen der Erzählerin. Von Ina Siepmann wird registriert, was von ihr ins Leben der jüngeren Mitschülerin herüberdrang - meistens in Form der Fernsehnachrichten.
Judith Kuckart schildert ihre Familie als vom Schicksal nach Schwelm gewürfelt, der Vater geht der Mutter bald fremd, die Mutter wird später an Krebs sterben, zuvor ist sie allerdings eine bemerkenswert resolute Person, die schon als 14-jähriges Lehrmädchen eingegriffen hat, als eine Frau bei einem Verkehrsunfall zu Tode kam und sie hinging und die sterbende Frau in den Arm nahm und tröstete, während die Leute drumherum standen und gafften. Die Krach schlägt, als einer der Lehrer ihrer Tochter einen Jungen exzessiv misshandelt. Die es einem Polizeibeamten nicht durchgehen lässt, dass er ihrer Tochter die Schuld an einem sexuellen Übergriff zuschieben will, und die am Ende dem Tod vor der Chemotherapie bewusst den Vorzug gibt. Es ist ein Denkmal, das die Autorin ihrer Mutter setzt.
Judith Kuckart erzählt, wie sie Tanz lernte, zufällig Pina Bausch begegnete, wie sie überhaupt im Laufe ihrer Schriftsteller-Karriere schon als junge Autorin berühmten Menschen begegnete und sie beobachtete. Durch ihren Tanz fand sie, wie Le Clézio es schildert, einen Weg zum eigenen Selbst und Da-Sein. Und dann, an einem Tanzabend mit ihren Texten, der verlaufen würde wie andere, steht die große Verlegerin Monika Schoeller vor ihr, um sie unter Vertrag zu nehmen.
Die Welt ihrer Eltern mag sie hinter sich gelassen haben, trotzdem schildert sie, wie die unwichtigen Dinge, eben die zwischen den Nachrichten, eine Bedeutung für ein veröffentlichtes Werk, aber eben auch für eine erwachsene Persönlichkeit haben. Keine Heldengeschichte, sondern ganz normal, was ihr Leben ausmacht. Die Reflexion darüber und der Umgang damit machen dieses Buch so interessant. Wenn es irgendwie anfängt, gefühlig oder sentimental zu werden, setzt sie diesen westfälischen trockenen Humor dagegen, oder schildert komische Situationen wie die mit dem eher sanften und distanzierten Wilhelm Genazino, der in einem Zugabteil ungeahnte Nähe anderer Mitreisender erfährt.
ISBN 978-3-8321-6846-9