, Wsewolod Petrow Die Manon Lescaut von Turdej aus dem Russischen übersetzt von Daniel Jurjew, mit Kommentaren von Olga Martynowa und einem Nachwort von Oleg Jurjew
Weidle Verlag

Ein Waggon eines Lazarett-Zugs in Russland, während des Zweiten Weltkriegs. Hier sind einige Männer und Frauen miteinander untergebracht auf dem Weg zu ihrem nächsten Einsatzort: ein Apotheker, zwei Sanitäter, zwei Ärztinnen, einige Krankenschwestern. Der Erzähler ist Sanitätsoffizier, er beobachtet das Wohl und Weh dieser kleinen Gesellschaft, die Gemeinsamkeiten der Gruppe und die unausweichlichen Konfrontationen, die besondere Dynamik einer Schar von zufällig zusammengewürfelten Menschen, die sich zuvor nicht kannten und die für nicht absehbare Zeit zusammenbleiben müssen.

Zugleich ist der Waggon, der mal hier, mal dort steht, wie losgelöst vom realen Raum. Allenfalls kommen Fragen der Versorgung auf, oder es gibt einen nächtlichen Luftangriff, aber das erscheint fast wie ein irrealer Hintergrund zum Geschehen des Buchs. Der Erzähler fängt nämlich an, Interesse an einer der Krankenschwestern zu haben, er beobachtet sie, er ergeht sich in romantischen Szenarios, dichtet ihr Ähnlichkeiten mit der französischen Königin Marie-Antoinette an, stellt sie sich in einem Gemälde von Watteau vor und ist schließlich so verliebt, dass er kaum noch lassen kann von Vera, obwohl die anderen im Waggon seine Vorliebe für Vera nicht nur nicht teilen, sondern sogar schädlich finden, weil sie es mit Männern eher locker nimmt. Doch er ist ganz versessen auf sie und will sie vor aller Unbill bewahren und kommt nicht zuletzt darum zum Vergleich mit Manon Lescaut, die ebenfalls ihre Liebhaber und Männer je nach Laune und Gelegenheit nahm. Guy de Maupassant hatte die Romanfigur Manon Lescaut als eine „Eva des verlorenen Paradieses“ bezeichnet, als ein „Liebestier von angeborener Schlauheit ohne jedes Schamgefühl“, und auch die Vera dieses russischen Romans hat etwas von diesen Eigenschaften. Und wie der Chevalier des Grieux im Roman des Abbé Prévost ist unser Erzähler ihr vollkommen ergeben. Eine dramatische Liebesgeschichte mit Glück und Tränen und mit einem literarischen Zusammenhang, den Oleg Jurjew im Nachwort erklärt: Es handelt sich um eine Art Passstück der jüngeren Geschichte der russischen Literatur. Wsewolod Petrow war Kunsthistoriker, der vor allem Sachtexte verfasste. Mit seiner kurzen Erzählung reagierte er offenbar auf die sich etablierende Linie der offiziellen sowjetischen Nachkriegsliteratur, aber er war unabhängig und schrieb leicht und unideologisch. Darin trifft er sich mit einem anderen Vertreter der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts: mit Vivant Denon, der, eigentlich Museumsdirektor unter Napoleon, mit einem feinen literarischen Text, Point de lendemain, in die Literaturhistorie einging. Während die Geschichte der Manon Lescaut ein Hauptwerk der empfindsamen Literatur ist und Denon ein Paradebeispiel der galanten Erzählung des 18. Jahrhunderts schrieb, hat Petrow mit den dramaturgischen Mitteln Prevosts und der Eleganz von Denon eine anrührende, moderne Liebesromanze verfasst, die sich – in offenbar perfekter Übersetzung – neben den beiden französischen Klassikern sehen lassen kann.

ISBN: 978-3-938803-48-6

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