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Annette Mingels
Der letzte Liebende
Roman
Penguin Verlag, München 2023, 304 Seiten
Wer hat sich nicht schon mal gewundert, dass andere Leute jemanden, den man verabscheut, ganz gut leiden können? Annette Mingels konfrontiert uns mit menschlicher Ambivalenz. Mit derselben Feinfühligkeit, mit der sie auch in ihren bisherigen Büchern die Haarrisse und Bruchstellen herausgearbeitet hat, aus denen Konflikte erwachsen und an denen die Liebe zerbricht, stellt sie uns ihren neuen Helden vor. Als Motto hat sie ein Zitat von Nick Cave an den Anfang gestellt: „Du kannst dich mehrfach häuten, aber wirst immer dieselbe verdammte Schlange bleiben.“

Ein eleganter Verräter. Annette Mingels schafft es, uns einen Menschen näherzubringen, um den man eher einen Bogen machen würde - wenn man kann.

Carl Kruger, eigentlich Krüger, ist emeritierter Professor für Chemie in Princeton, USA. Jetzt lebt er still und ereignislos seinen Alltag, schaut nach seiner sterbenskranken Frau Helen und denkt zurück an schöne Zeiten, als ihn Studentinnen umschwärmten und er sie verführen konnte, ohne dass ihm das geschadet hätte. Das Elend der Krankheit seiner Frau, das er mitansieht, wird ihn nie erreichen können. An einem unscheinbaren Moment lässt sich erkennen, wie es ihn kaltlässt: Er bringt ihr einen Kaffee mit einem Keks, wie immer, isst den Keks auf dem Weg dann einfach selber, und bescheidet ihr: „Du isst ihn doch nie. Aber ich kann dir gerne einen holen.“

Von der ersten Seite an werden wir eingestimmt auf die Haltung und Meinung der Erzählstimme, die sich fokussiert auf die Perspektive ihres Helden und mit Feingefühl und Anteilnahme sein Seelenleben auslotet, andererseits aber die Flurschäden misst, die er angerichtet hat. Dabei ist er ganz unbeteiligt und stellt sich vor, „wie Lisa auf einem Klappstuhl neben Helens Liege sitzt, wie sie plaudern, immer derselben Auffassung, wenn es um ihn ging. Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte. Er war vielleicht sogar der Grund für das hier: ihre Krankheit. Auf jeden Fall jedoch für das Scheitern von Lisas eigener Ehe.“

Eine über längere Zeit andauernde Liebschaft mit einer Renée versetzte seiner Frau Helen irgendwann den endgültigen Schlag. Darüber geht er hinweg mit der Leichtigkeit des Siegertyps, der nicht zurückblickt und der sich auch nie einer Schuld bewusst ist, der höchstens analysiert, wie es zu was gekommen sein könnte. Seine Weste bleibt vor ihm selber stets weiß.

Annette Mingels lässt uns so tief in sein Innenleben vordringen, dass wir seine Empfindungen und Regungen mitvollziehen und verstehen, obwohl eigentlich klar sein müsste, dass wir ihn nicht mögen. Er hat offenbar so wenig Anteil am Leben seiner Frau und der Tochter genommen, dass erst spät im Roman zu erfahren ist, dass Lisa ein Adoptivkind ist.

Die Ambivalenz, dass er ein umgänglicher Mensch ist und Charme hat und andererseits so teilnahmslos ist, stellt vor ein Dilemma, das die Autorin mit einem Kunstgriff unter umgekehrten Vorzeichen innerhalb ihres Romans als Spiegelung herausarbeitet: Einer seiner Kollegen an der Uni, dessen jüdische Eltern aus Deutschland hatten fliehen können, dessen Familie weitgehend in den Vernichtungslagern der Nazis umgekommen ist, „hatte Carl als deutschen Assistenz-Professor aus Berlin in der Princeton University kennen gelernt, dessen Englisch ihn auf gespenstische Weise an das seiner Eltern erinnerte. Er konnte ihn gar nicht anders wahrnehmen als als einen Konkurrenten, der, unversehrt und reuelos, gekommen war, um ihm das Wasser abzugraben. Da Carl kein Jude war, musste er einer Familie von Nazis entstammen. Trevor reichte das, um Carl fortan trotz unfreiwilliger Sympathie mit Ablehnung zu bedenken.“ Carl stellt klar, dass er Nachkomme von Vertriebenen ist, und Trevor muss seine Abneigung als unbegründet revidieren. Da hat Trevor bereits einen Roman geschrieben, in dem er Carl, mit geringen Verfremdungen, zur Hauptfigur macht. Carl ist so töricht und eitel, zu einer Lesung zu gehen, trifft dort eine frühere Geliebte und muss erleben, wie er abblitzt. Trevors Neid auf Carls Leichtigkeit kann man allerdings auch ohne besondere Identität oder Herkunft erleben - Annette Mingels hat eine uneindeutige Person herausgearbeitet, wie es sie in jeder Familie geben kann.

Der Zeitraum des Romans umfasst ein Jahr. Im zweiten Teil, Helen ist inzwischen gestorben, reist Carl mit Lisa und deren Sohn Collin an Carls Herkunftsorte in Ostdeutschland und Polen, von wo er, seine beiden älteren Brüder und die Mutter nach dem Krieg vertrieben worden waren, während der gemeinsame Vater sich nach der Kriegsgefangenschaft in eine neue Beziehung nach Minsk abgesetzt hatte. Hier wäre ein Ansatzpunkt, ein Kindheitstrauma bei Carl zu vermuten, was sein Verhalten erklären könnte.

Noch vor dem Mauerbau flüchtete er, als junger Mann, aus Ostdeutschland nach West-Berlin und konnte dort ein freies Leben, ein Studium nach seiner Wahl und eine blendende akademische Karriere in den USA beginnen. Hinterlassen hatte er zwei Brüder, die nun von der Staatssicherheit in die Mangel genommen und beruflich benachteiligt wurden. Der eine, Hermann, ist ein etwas verschrobener Einzelgänger mit autistischen Zügen, der ein unscheinbares Leben ohne Emotionen führt. Carl hat er zu Helens Tod eine Trauerpostkarte für einen Hund geschickt – dass das komisch sein könnte, erschließt sich Carl nicht. Der andere, Konrad, hatte mehr zu leiden unter Carls Weggang. Er ist bis jetzt, nach der Wende und inzwischen im Rollstuhl, ein in Krankheit und Verbitterung hart gewordener SED-Anhänger. Carl macht sich zwar Gedanken, ob ihm seine Brüder etwas übel genommen haben könnten, aber mehr Platz haben die beiden nicht in seinem Weltbild.

Während Mingels die Schattenseiten ihres Romanhelden immer deutlicher werden lässt, ist mit Lisas Sohn Collin ein positives Element in die Handlung eingetreten. Er ist seelisch gefestigt und bringt oft als jugendlicher Gesprächsteilnehmer die Sachen auf den Punkt und das Gespräch voran. Was im Verlauf des Romans bedrückend hätte werden können, wird dadurch aufgefangen, das Buch bekommt einen Ausblick. Dass Carl eines leichten Todes stirbt hat etwas Stimmiges: distanziert und ohne Emotionen, so wie er gelebt hat.

ISBN: 978-3-328-60295-8

https://www.penguin.de/Buch/Der-letzte-Liebende/Annette-Mingels/Penguin/e610811.rhd