,
Martin Suter
Melody
Roman
diogenes, Zürich, 332 Seiten
Martin Suter führt einen altgewordenen Honoratiorentyp vor, der keine Gelegenheit auslassen kann, seine Bedeutung, seinen Rang, seine soziale Enormität zu betonen. Dabei war die wichtigste Grundlage seiner Lebensenergie eine tragische Selbsttäuschung

Der Schwadroneur vom Zürichsee.
Martin Suter führt einen altgewordenen Honoratiorentyp vor, dessen Lebensgrundlage eine tragische Selbsttäuschung war

Seit Small World, seinem ersten Roman bei diogenes, kennen wir Martin Suter als Meister der spannenden Erzählung. Die Welt seiner Helden ist die gehobene Klasse rund um den Zürichsee und darüber hinaus: Eleganz, Reichtum, Ansprüche und differenzierte bis gebrochene Persönlichkeiten. Ein Ausbund von Charme, Schlitzohrigkeit und der Notwendigkeit, Solvenz vorzutäuschen, ist sein Serien-Held von Almen, der vor Eleganz und Snobismus nicht einmal einen Einkaufswagen ohne Anleitung benutzen kann. In seinem neuen Roman ist es wieder dieselbe Welt, nur steht dieses Mal eine gänzlich ungebrochene Persönlichkeit im Mittelpunkt, ein Honoratioren-Typ vom Zürichsee, der in seiner Selbstgefälligkeit kaum einen Satz sagen kann, in dem er nicht seiner Privilegiertheit Ausdruck verleiht. Über zwei Drittel des Buches hinweg gibt Doktor Stotz seinen Selbstgefälligkeitsdiskurs zum Besten. Er hat einen Jura-Bummel-Studenten eingestellt, Tom, der seinen Nachruf und vor allem seinen Nachruhm zurechtfrisieren soll, der zunächst aber als gut bezahlter Zuhörer Dienst tut. Im Zentrum steht die erst auf den letzten Seiten gesehene Titelheldin Melody, die sich der schon fest geplanten und annoncierten Heirat mit dem deutlich älteren Herrn Doktor Stotz entzogen hatte für eine echte Liebe auf einer griechischen Insel. Stotz kann nicht lassen von seiner Verehrung für sie, von seinem Schmerz um den Verlust. Alles dreht sich hier um die Frau, von der es kaum Spuren und wenige Bilder gibt. Erst, als man schon dabei ist, die Geduld zu verlieren mit diesem Mann, wird es sutergemäßer. Doktor Stotz hat sich in einer Vorahnung des unmittelbar bevorstehenden Todes mit einem Cognac auf seinen Lieblingssessel gesetzt, ein Portrait von Melody auf einem weiteren Sessel, als wäre es ein Besucher, davor auf dem Tisch ein zweites unberührtes Glas Cognac, knisterndes Feuer im Kamin und in Dauerschleife Whole Lotta Love von Led Zeppelin - ein selbstinszeniertes Requiem, feierlich gemeint, tatsächlich ein klägliches Surrogat. Erst jetzt, nachdem Doktor Stotz in seinem Sterbensarrangement aufgefunden wurde, beginnt Tom eine Recherche. Nach und nach klärt sich auf, dass der Doktor im Streit an einer Steilküste in einem Affekt Melody geschubst hatte und der Auffassung war, sie sei 40 Meter in die Tiefe gestürzt. Sie aber hatte sich festkrallen können und wurde von ihrem neuen Geliebten gerettet, der dann seinerseits den Doktor Stotz erpresste um Schweigegeld. Also eine hochkonstruierte Lebenslüge auf der Grundlage einer tragischen Täuschung. Wer selbstgerechte Monologe zwischen Cognacschwenkern und Champagnerkelchen auch als Karikatur genießen kann, der wird hier seine Freude haben. Die tiefere Psychologie eröffnet sich erst spät im Buch, von Anfang an dagegen werden wir eingeweiht in die Rezepte zu allerhand erlesenen Speisen, die nicht nur das Leben der Reichen verschönern.

R.v.Bitter

ISBN 978-3-257-07234-1

https://www.diogenes.ch/microsites/melody.html