,
G. E. Trevelyan
Appius und Virginia
Roman, aus dem Englischen von Renate Haen
Manesse Verlag, München 2024, 400 Seiten
Alle reden von Künstlicher Intelligenz, hier geht es um menschliche Intelligenz, die einem jungen Affen eingespeichert werden soll. Das Buch erschien 1932 und wirkt heute wie eine Groteske rund um die Technik der heutigen Künstlichen Intelligenz mit ihren computergenerierten Wissensspeichern und übergreifenden Verknüpfungsfähigkeiten. Ein Thema, das T.C Boyle neunzig Jahre später mit seiner Geschichte von Aimée und Sam in „Talk to me“ neu aufgegriffen hat.

Menschliche Intelligenz, die einem jungen Affen eingespeichert werden soll. Der einsame Feldversuch einer konsequenten Wissenschaftlerin der 1930er Jahre. Wie eine Satire unversehens aktuell geworden ist, obwohl sie sich auf eine Theorie des 20. Jahrhunderts bezieht.

Künstliche Intelligenz einmal ganz anders: Wenn künstliche Intelligenz die Übertragung menschlicher Intelligenz auf leere Speicher ist, was im Ergebnis übermenschliche Intelligenz, also totales Wissen plus Verknüpfungsfähigkeit generieren soll, dann zeigt uns dieser Roman aus dem England der 1930er Jahre, dass es das als Denkansatz schon lange gibt. In diesem Buch ist der Speicher ein Gehirn mit allen organischen Affekten und Reflexen eines tierischen Instinkts, das aber nach menschlichem Ermessen als leer gelten kann, und die zu übertragene Intelligenz ist die einer ehrgeizigen Wissenschaftlerin: Virginia, Pastorentochter. Virginia ist interessiert an den Naturwissenschaften. Nach dem Tod ihres Vaters hat sie sich in einem Club eingemietet und denkt über ihre Zukunft nach. Einträge in ihr Tagebuch erzählen ihre Geschichte: „Verbrachte diesen Nachmittag im Zoo, wie immer fasziniert von der Menschlichkeit der Affen. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass alle bisherigen erzieherischen Experimente mit ihnen in die völlig falsche Richtung gingen. Ich glaube, wenn man einen jungen Affen gleich nach der Geburt nähme und ihn in durchweg menschlicher Umgebung aufzöge, genau wie ein Kind, würde er auch aufwachsen wie ein Kind - würde in der Tat zu einem Kind; abgesehen natürlich von seiner äußeren Erscheinung, doch auch da ließe sich etwas machen... Wenn es nur möglich wäre, eine absolut passende Umgebung einzurichten und dann einen Affen zu finden, der so jung ist, dass er noch keinerlei äffische Erziehung genossen hat, ein unbeschriebenes Blatt also, mit dem man arbeiten könnte... Vielleicht weiß ein Händler von einem.“ Ihr Ansatz folgt der Ansicht, dass Charakter und Verstand nicht unbedingt ein Privileg des Menschen sein müssen - als hätte sich die Autorin bereits hier lustig gemacht über eine ideologisch bestimmte Debatte ihrer Zeit. Ihre Heldin Virginia kann es sich offenbar leisten, ihre Überlegung in ein Experiment münden zu lassen. Als erstes benötigt sie den erforderlichen Raum für ihren Versuchsablauf, der ja einige Jahre dauern wird. „Fand heute das passende Cottage, in einiger Entfernung von anderen Häusern und gut umfriedet. Klein und leicht in Ordnung zu halten, denn ich denke, es ist besser, anfangs keinen Dienstboten zu haben. Ein Garten für die körperliche Bewegung und ein Zimmer, das sich ideal als Kinderzimmer eignen wird.“ Jetzt fehlt nur noch ein „neugeborener Affen. Von menschenähnlichster Art“ wie sie einem Tierhändler erklärt. Und der hat was im Angebot: einen jungen Orang-Utan.

Die Autorin dieser Geschichte, Gertrude Eileen Trevelyan, geboren 1903 in Bath, Somerset, und gestorben an den Folgen eines Bombardements der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, hatte offenbar ein ausgesprochen satirisches Temperament. Ihr erster Auftritt war ein 250-Zeilen Epos um „Julia, Tochter des Claudius“, in der sie einen obskuren Kult um eine 15-Jährige thematisiert, deren vollständig erhaltener Leichnam 1485 an der Via Appia ausgegraben worden war, und deren Verehrung der Papst durch Beschlagnahme des Leichnams unterband, weil er die Konkurrenz fürchtete - „Poem for a joke“ schrieb der Londoner „Daily Mail“ im Juni 1927. Und auch in diesem Buch spiegelt sich eine Debatte ihrer Zeit, nämlich die der vergleichenden Verhaltensforschung, die bei uns durch Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen bekannt geblieben ist. Die Frage dabei: Sind Intelligenz und Charakter angeboren oder anerzogen? Dass die Autorin für lange Zeit vergessen war, liegt möglichweise auch an ihrer Aufgeschlossenheit für moderne, also nicht leicht zu konsumierende Erzählformen wie Bewusstseinsstrom, innerer Monolog und Montagetechniken.

Virginias Besuch beim Tierhändler wirkt fabelhaft: „Aufgescheucht von ihrem Wagemut, halb berauscht vom Nervenkitzel des Experiments und ihrer Sinne beraubt durch den warmen Geruch nach Hund, Affe und Papagei“, ordert sie einen neugeborenen Orang-Utan. Jetzt kann sie beweisen, dass Affen wie Menschen sein könnten. Sie hofft damit auf einen wissenschaftlichen Durchbruch, also auch auf Ruhm und Ansehen. Zunächst findet sie sich in eine unerwartete Rolle als Mutter, die dem Kleinen sein Fläschchen macht, ein Tagebuch führt und sich an die Erziehung macht. Darin allerdings ist sie nach unseren Maßstäben altmodisch streng: „Gehorsam, Sauberkeit und Ordnung sind wichtig. Was es als erstes zu lernen gilt, ist Gehorsam…“

Mit der Zeit lernt Appius, der kleine Affe, sogar sprechen, bis sich eines Tages Kinder der Nachbarschaft an der Gartenmauer hochgehangelt haben und sich über ihn lautstark lustig machen: „Ein Affe in Menschenkleidung.“ Für Appius ein traumatisches Erlebnis, das eine Zeit lang verdrängt wird. Irgendwann aber greift Appius nach einem Tieralphabet-Buch und sieht bei A sich selbst abgebildet. Ein Orang-Utan. Das ist der Schock seines Lebens, wir erleben eine Bewusstwerdung, fast wie die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Wer bis hier noch nicht gelacht hat, kann das gar nicht. Virginia will seine Schwierigkeiten, die ungefähr denen eines pubertierenden Knaben ähneln, niederbügeln und so tun, als wäre nichts. Alles sehr menschlich, aber dann sieht der Affe sich im Spiegel. In Virginia scheint ein Zweifel an ihrem Experiment zu keimen. Während sie bedrückter wird, wird ihr Tier aggressiv. Appius zertrümmert die Einrichtung des Kinderzimmers. Hungrig streunt er mit wilden Rufen „Appius Frühstück“ durch das Haus, ist aber doch nicht intelligent genug, Vorratsschränke zu öffnen. Virginia bekommt Angst, für sie endet es tragisch. Heute ist es allenfalls tragikomisch. Und merkwürdigerweise wird man erinnert an „Coco, der neugierige Affe“, den H.A. Rey in den 1940er Jahren für Kinder erfand. So kann man dem Verlag nur danken, dass er G.E. Trevelyans heimlichen Klassiker zugänglich gemacht hat. Dass das bis heute einen Reiz hat, sehen wir an T.C Boyle, der es neunzig Jahre später mit seiner Geschichte von Aimée und Sam in „Talk to me“ neu aufgegriffen hat.

ISBN 978-3-7175-2557-8

https://www.penguin.de/buecher/g-e-trevelyan-appius-und-virginia/buch/9783717525578