Sie war seinerzeit mit ihrer Freundin Meret nach London gefahren, gegen den
Willen von Merets Eltern, die mit ihrem Kaufhaus zu den Honoratioren des
Orts gehörten. Was wäre gewesen, wenn sie damals die andere Möglichkeit
gewählt hätte? An solch eine Wegegabel des Lebenswegs ist jeder schon einmal
gekommen, zumeist erkennt man sie erst nachträglich und kann sich dann –
mehr oder minder beunruhigend – fragen, wie es hätte werden, wie das andere
hätte ausgehen können.
Auch dieses Mal bleibt Vera gar nicht lange weg. Sie lernt in London einen
langweiligen, aber männlichen Berufssoldaten kennen. Obwohl ihr Ausbruch
gelungen ist und sie eine neue Existenz beginnen könnte, kehrt sie zurück
mit der philosophischen Erkenntnis, dass jeder in dem Leben landet, in das
er halb sich durch seine Entscheidungen manövriert, und in das er halb von
den Umständen seines Lebens geleitet wird.
Ist das Schicksal?
Es bleibt unklar, ob es für Vera bereits das Ziel gewesen ist, einmal
ausgebrochen zu sein aus dem normalen Leben, sich gewissermaßen bewiesen zu
haben, dass in ihr noch die alte vitale Spontanität steckt, oder ob sie
unausgefüllt war von ihrem gleichförmig gewordenen Leben.
Auch ihre Jugendfreunde, die Geschwister Friedrich und Meret Wünsche, stehen
im Rückblick vor einem nicht ausgelebten Leben. Sie sind die Erben eines
ortsansässigen Kaufhauses, und jetzt, als Friedrich endlich übernehmen kann,
will er ein Retrokaufhaus daraus machen – so wie Vera scheint er einen
Neuanfang im Vergangenen zu suchen. Und nicht nur das verbindet die beiden:
Friedrich hat Vera seinerzeit verehrt, und womöglich ist Veras Sohn auch
sein Kind.
Warum suchen die beiden ihr Glück im Vergangenen?
Meret dagegen, eine Egozentrikerin von Graden, pflegte eine leicht lesbische Beziehung zu Vera und vertändelte ihr Leben in Antihaltungen zu dem bürgerlichen Durchschnittsleben, das von ihr als reicher Tochter mindestens erwartet worden wäre. Sie stößt die Eltern vor den Kopf und will sich unabhängig ausleben. In ihrer impulsiven Exzentrik hat sie sich entschlossen, eine Würstlbude zu betreiben. Auch sie kehrt zurück an den Ort ihrer besseren Herkunft, wo sie als Miterbin die Chance zu einem Neubeginn wittert, und auch sie muss den Gedanken zulassen, dass sie auf ihre wildere Art auch nicht mehr Erfüllung fand als die beiden anderen.
Geht es, mit diesem Rückblick, nicht auch um das Alter?
Mit diesem Roman greift sich Judith Kuckart eine unauffällige, scheinbar normale Frau in einer Kleinstadt heraus und zeigt an ihr das Potential, das in jedem Menschen steckt, wenn er sich nur mal traut, einen Schritt weiter zu gehen, als von ihm erwartet wird. Während Meret, die doch so viel mehr Chancen und Möglichkeiten gehabt hätte, nach langem Umweg erfolglos aufgibt und die Rolle der Kaufhauserbin annimmt, die ihr immer zugedacht war, macht Vera diesen Schritt mit leichter Geste wieder rückgängig. Sie hat trotzdem für sich und vor allen gezeigt, was in ihr steckt. Mehr braucht es vielleicht gar nicht. Ein Buch, das uns auffordert, zu überlegen, welches von diesen Modellen auf uns selbst zutreffen könnte.
ISBN 978-3-8321-9705-6
http://www.dumont-buchverlag.de/buch/Judith_Kuckart_Wuensche/12215