
Der Erzähler des Romans ist ein junger hoffnungsvoller und offiziell geförderter Komponist von schwer zugänglicher E-Musik. Er spricht in erster Person und erzählt seine Erlebnisse in parallelen Kapiteln zu dem, was sein Vater tut, der ein überzeugter SED-Anhänger ist und bei der Staatssicherheit über die Szene berichtet, in der sein Sohn verkehrt. Schon mit dieser Konstellation wird klar, dass mehrere Konfliktfelder ineinander ragen: Vater und Sohn, Herrschaft und Opposition, politische Ideologie und deren Umsetzung. Und noch ein Element belebt diesen Roman: die ewige Libido der beiden männlichen Hauptfiguren. Es geht freizügig zu, Ehen werden geschlossen und bald gebrochen, Kinder werden gezeugt und den jeweiligen Müttern überlassen. Hauptsache ist das eigene Glück in dieser als eher freudlos und grau beschriebenen Welt von Menschen, die ihre Meinungen verbergen müssen und ihre offiziellen Funktionen verleugnen. Handfeste und verlässliche Information ist hier etwas Seltenes. Darum überrascht und erfreut eine kleine ironische Studie über das Entstehen eines Gerüchts, die ganz unauffällig in den Text gefügt ist, aber doch herausragt.
Ein Kabinett-Stückchen ist z. B. die Passage, in der geschildert wird, wie ein Gerücht entsteht, und dann, wie Information verdrängt wird von Gerüchten.
Der junge Komponist erlebt die Welt durch sein Gehör. Was um ihn herum ertönt, erzeugt in seiner Wahrnehmung heftige Empfindungen oder ästhetische Erlebnisse. Wie John Cage die Klänge und Geräusche eines Bahnhofs als Musik wahrnahm, so gestaltet sich auch ihm die Welt. Seine Werke schaffen ihm einen Status von Bedeutung in der dissidenten Kunstszene; er ist wer, wenn er auftritt; er könnte berühmt sein. Aber er passt sich eben nicht an ans politische System, sondern bleibt in einer gespannten Haltung zu seinem systemkonformen Vater, mit dem ihn dennoch verbindet, dass sie beide Sex suchen, wo es nur möglich ist.
Am Ende übernimmt der Sohn die Frau des Vaters - war das nur so eine dramaturgische Idee?
Bei alledem haben die Dissidenten dieses DDR-Undergrounds offenbar ein mehr oder minder auskömmliches Leben. Sie diskutieren theoretische Fragen der Ideologie, aber sie leben wirtschaftlich einigermaßen abgesichert in diesem autoritären und paternalistisch fürsorglichen System. Als würden sie in Unmündigkeit gehalten und dürften ihre Bohème-Existenz nur in einem geduldeten Rahmen führen, als sei die Dissidenz bloß eine Behauptung. Auch im Umgang miteinander zeigt sich eine gewisse Verantwortungslosigkeit: Während Ehebruch und Betrug die direkten Beziehungen beschädigen, wirken politischer Verrat und Spitzelei hinterrücks und beschädigen ganze Gruppen.
Der Titel heißt „Die Lüge“, geht es nicht vor allem um Verrat?
So wird dieser Roman, dessen Handlung in der versunkenen DDR spielt, zu einer Geschichte mit universeller Bedeutung. Die Charaktere, denen wir hier begegnen, gibt es überall, sie sind menschlich.
ISBN: 978-3-10-040221-9
http://www.fischerverlage.de/buch/die_luege/9783100402219