Sansal baut seinen Roman auf die Ergebnisse von jahrelang geführten
Recherchen, die ihren Anfang nahmen, als er zufällig in ein Dorf kam, wo es
irgendwie anders war – ein Deutscher hatte dort das Heft in die Hand
genommen „und sein eigenes kleines Drittes Reich errichtet“, wie Sansal es
erzählt.
So, wie der ältere Bruder nicht zurechtkommt mit seiner Erkenntnis, einen
Kriegsverbrecher zum Vater zu haben, und auf all den Fragen sitzen bleibt,
die er gerne stellen würde, erinnert er an eine ganze Generation von
Deutschen, die erst zu spät angefangen haben, die Eltern zu befragen.
Der jüngere der beiden Brüder geht damit anders um. Er will davon reden, er
fühlt einen Drang, es der Welt zu erzählen und ist zugleich skeptisch, ob
das was nützen wird. Weil er so unintellektuell und unmethodisch ist, hat er
einen irgendwie amüsant zögerlichen Umgang mit den nachgelassenen Dokumenten
seines Vaters und dem verzweifelten Tagebuch seines Bruders. Er schlägt sich
nicht mehr mit den Verbrechen der 30er/40er Jahre, nicht mehr mit den
antikolonialistischen und postkolonialistischen Theorien herum. Er ist
gewissermaßen postmodern angelegt mit einer Haltung, wo Kultur, Freiheit,
Rechte irgendwie marginal geworden sind.
Sansal erzählt nicht schnurgerade, sondern durch die Tagebücher, die die
beiden Brüder jeweils geführt haben und die nun mit Hilfe einer Lehrerin zu
einem Buch zusammengefügt sind. Eine Form der Manuskriptfiktion, mit der der
Autor einen gewissen Abstand zu seinem Stoff oder zu dessen Art von
Darstellung nimmt. Vielleicht eine Schutzmaßnahme. Denn Sansal ist für seine
zeitkritisch angelegten Romane schon bedroht worden, und auch hier hält er
nicht zurück damit.
Sein jugendlicher Held aus der Pariser Banlieue registriert genau, was um
ihn herum vor sich geht, z. B. wie der Einfluss der Islamisten in Frankreich
zunimmt und damit der Missbrauch der Religion für politische Zwecke und
Macht-Gier. Er erkennt sogar einen beinahe geschlossenen historischen Bogen
zwischen NS-Regime und Islamisten und vermutet dass die Islamisten sogar die
Nazis noch übertreffen werden, sobald sie mal die Möglichkeiten dazu
haben.
Das Buch, das nun aus den Tagebüchern entstanden ist, könnte aufgefasst
werden als ein erster Schritt einer Diskussion.
Ist dieser Roman gedacht als Eröffnung eines Dialogs?
Wir gratulieren Boualem Sansal zur Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels 2011!
ISBN 3-87536-270-5
http://www.merlin-verlag.de/neu.htm