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Uwe Timm
Alle meine Geister
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 280 Seiten
Uwe Timm ist einer der bedeutenden deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Seine Romane reflektieren mit wechselnder Intensität seine und damit unsere eigene Zeit. Jetzt hat er mit „Alle meine Geister“ einen Band mit Erinnerungen vorgelegt, den man gar nicht als solchen bezeichnen mag. Es ist vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem, was er als seine Erinnerung wahrnimmt. Das allein ist schon spannend. Das Schöne daran ist aber Uwe Timms Erzählkunst. Subjektiv, so gut wie nie Allgemeingültigkeit beanspruchend, und doch verbindlich und fesselnd bis zum Schluss.

Lebensbestimmende Zufälle im warmen Licht des Erinnerns
Mit seinen Romanen hat Uwe Timm teilgenommen an den Diskursen unserer Gesellschaft. Sein Rückblick ist so weise wie bereichernd.

Uwe Timm hat in fast allen seinen Büchern die Deutschen - als Nation, als Individuen, als Teilnehmer oder Erbe einer bestimmten Geschichte - dargestellt, und dabei herauszufinden und darzustellen versucht, was in den Menschen im Einzelnen vorging, was die Motive und Denkweisen gewesen sind. In seinen früheren Romanen, in denen er sich mit seinem Vater und dessen Generation auseinandersetzt, war die Intensität dieser Auseinandersetzung zu spüren. Mit Büchern wie „Kerbels Flucht“ und „Heißer Sommer“ wurde er zwischenzeitlich zu einer Art „Chronist der Generation von 68“, mit Werken wie „Rot“, „Morenga“ und „Der Freund und der Fremde“ hat er immer wieder Bezug genommen auf das, was unsere Gegenwart prägt, die Veränderungen in der Gesellschaft, die Verschiebungen der Prioritäten des Alltags. Später, und mit der Gelassenheit eines Meisters, hat er über persönliche Angelegenheiten so geschrieben, dass sich ganze Generationen damit identifizieren konnten. „Am Beispiel meines Bruders“ ist eine bemerkenswerte eigene Familiengeschichte, in der Timm die psychologische Arbeit leistet, vor der viele Deutsche zurückgescheut sind. Das wurde einer von Timms großen Erfolgen.

Auch das neue Buch, ein autobiographischer Rückblick, geht über das Private hinaus. Zwar gibt er mit dem Titel zu verstehen, dass er selbst und sein Weg in der Welt das Thema sind, aber bei jemandem, der sich mit dem Geschehen um sich herum auseinandersetzt, um es überhaupt zu verstehen, wird mehr daraus. Er gleicht die erinnerten Beobachtungen und Begegnungen ab mit dem, was historisch verbürgt ist, so dass das Erinnern zugleich eine Wahrheitssuche ist. Mal ist es die ganz private Frage an sich selbst, wie er dazu gekommen sei, Hemingway zu lesen: Die Verfilmung von „Der alte Mann und das Meer“ „kann es nicht gewesen sein, die kam erst 1958 in die Kinos.“ Mal geht es um die Aussagen eines Deutschen, der offenbar aus Schweden an Russland ausgeliefert worden war. Das gleicht er ab mit Per Olov Enquists dokumentarischem Roman darüber. Ein Literaturverzeichnis zeigt, dass er recherchiert hat, was er damals gelesen oder erlebt haben konnte.

Daneben, und allein für sich schon spannend, die ganz persönlichen Sachen: Angefangen mit der Flucht am Kriegsende, wo die Erfrorenen und Erschossenen, Männer, Frauen und Kinder, am Wegrand lagen, dann die kritische Wahrnehmung des Alltags in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wie er Kürschner werden sollte und später die verschuldete Werkstatt seines Vaters wieder hochgebracht hat, wie ein Werkstattmeister ihm Eugen Kogons „Der SS Staat“ zu lesen gab und er parallel dazu Alain Resnais' Film „Nacht und Nebel“ sah, wie er den zweiten Bildungsweg ging und in dieser neuen Gesellschaft auf Personen traf, die später in seinem Leben wichtig waren - „wenn ich es richtig in Erinnerung habe“, schränkt er einerseits ein, und zugleich nennt er es die „lebensbestimmenden Zufälle“. Es ist eine philosophische Haltung, in der skeptische Selbstbefragung und kritische Beobachtung einander ergänzen. Zugleich erlaubt er Einblicke in das Entstehen seines Werks. Zum Beispiel als er mit dem moralischen Abstand eines, der solche Dinge nicht tut, zum Zeugen wird: Einer seiner Freunde versucht sich mit einem Betrug und fällt selber auf einen viel gewiefteren Schmock herein. Diese Szene liest sich wie ein Initiationsfunken für das spätere Buch „Kopfjäger“ (1991), in dem Timm mit distanziertem Interesse und unterschwelliger Belustigung von einer Welt erzählt, die ihm offenbar fern ist.

„Alle meine Geister“ endet mit der wohlgemuten und zuversichtlichen Stimmung des Moments, als er 1960 die vom Vater hinterlassenen Schulden des Kürschner-Geschäfts ausgeglichen hatte und nun unbeschwert eine Reise unternahm, „wie sie nur in einem ungebundenen Lebensabschnitt möglich ist“. Wer das gelesen hat, fühlt sich bereichert.

ISBN 978-3-462-00549-3

https://www.kiwi-verlag.de/buch/uwe-timm-alle-meine-geister-9783462005493