diogenes Verlag
Beste Gelegenheit für mehr Umgang mit der Meisterin bietet ein jugendlicher Häftling, der in einem Dorf in der Nähe in einer Sammelzelle der Polizeistation auf sein Verfahren wartet. Alice und die Meisterin suchen ihn auf und wollen bessere Bedingungen für ihn erreichen, vor allem die Verlegung in ein weit entferntes Jugendgefängnis. Als das erreicht ist, merkt Alice, was für ein Unglück sie damit der Mutter des Jungen zugefügt haben, die keine weiten Reisen unternehmen kann. Fernando ist ein Vehikel für Alice, um an die Meisterin heranzukommen, für die Meisterin bietet er einen möglichen Roman-Stoff. Alice und die Meisterin haben sich auf diese Art ein erzählenswertes Erlebnis verschafft. Beide machen etwas draus. Schreiben ist wichtiger als der arme Junge. Dessen Schicksal, soweit die beiden es überhaupt wahrnehmen, dient ihnen als eine Art Steinbruch für die Konstruktion von etwas Eigenem.
Welche Bedeutung hat denn die Neigung, andere Leute und ihre Eigenschaften auf ihre literarische Verwertbarkeit zu prüfen?
Was Alice dann aber weiterbringt, sind die Enttäuschungen und Zurückweisungen, die ihr die „Meisterin“ zumutet. Denn statt eine robuste und souveräne Persönlichkeit zu sein, ist die Meisterin schwach, sie lässt sich leicht kränken und sie lässt sich sogar verleugnen, als Alice sie aufsuchen will. Auf sich allein angewiesen, gelangt Alice in ihr bis dahin unbekannte Bereiche, eine Unterwelt der Gesellschaft, die sie anders nie bemerkt hätte. Dort findet sie auch endlich etwas, wovon sie erzählen könnte.
Bei Alice Hofmann führen Enttäuschungen zu Erlebnissen, für die sie vorher keine Antenne hatte – gehört das auch zu dem, was ein junger Autor erfahren muss?
Schließlich erklärt ihr die Meisterin, wie sie ihre Geschichten aufbaut –
nach einem stereotypen Schema. Da ist Alice aber schon weit genug, um zu
wissen, dass sie so ein Schema niemals anwenden wird. Nach und nach hat sie
sogar Erfolge, dann richtig Erfolg und wird sogar mit Aufmerksamkeit,
Preisen und Stipendien bedacht. Zugleich lernt sie, wie schwierig es ist,
mit Konkurrenz umzugehen und das Gleichgewicht zwischen Einzelgängertum und
Solidarität zu finden und bei alldem eine eigene Haltung zu haben. Doris
Dörrie beschert uns ganz nebenher eine satirische Darstellung von
Stipendiums-Literaten, deren Bedeutung gering, deren Förderungen aber
beträchtlich sind: Engherzige Egoisten, die eifersüchtig ihre Kollegen
aushorchen, wie sie es weiter gebracht haben, die aber selber nie preisgeben
würden, was ihnen genützt hat. Die Alten sind geizig, die Jungen sind
gierig.
Am Ende gesteht Alice ein, dass sie gegenüber echten Talenten so etwas
empfindet wie Missgunst, während sie den weniger Begabten gerne alle
Ratschläge erteilt, weil die daraus doch eh nichts machen – ein humorvolles
Aperçu der Erzählerin Doris Dörrie, die damit zeigt, wie sie, selbst längst
eine Meisterin, den Literaturbetrieb als Spielfeld aller menschlichen
Regungen erlebt.
Kennen Sie das: Missgunst?
Doris Dörrie zeichnet teils liebevoll, teils ironisch das Bild moderner Schriftsteller, die ihre Stoffe mangels besonderer Erlebnisse gern in fremden Biografien suchen, die ihren Erfolg steuern wollen und dabei Stipendien und Förderungen erlangen, aber kein Ansehen als Erzähler: Dementsprechend humorvoll nennt sie ihr neues Buch „Diebe und Vampire“.
ISBN 978-3-257-06918-1
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