Berlin Verlag
Dabei müsste Lysander, der Schauspieler, der auch Shakespeare gespielt hat, doch vom Theater her komplexe Persönlichkeiten kennen, wie Hetty eine ist, und er müsste darum gefeit sein gegen derart ambivalente Menschen. Hetty wäre dann nicht so gefährlich für ihn geworden.
Sie schildern Lysander als einigermaßen oberflächlich gebildet. Wäre er mit mehr – zumindest literarischer – Bildung bei Hetty nicht so in Gefahr geraten?
Lysander besucht weiter die Praxis von Dr. Bensimon. Es geht inzwischen um seinen Umgang mit einer Schuld, die er sich als Jugendlicher aufgeladen hat, übrigens auch eine Art Verrat: Er hat in seiner Kindheit einen harmlosen Jungen beschuldigt, sich an ihm vergangen zu haben, was nicht nur dem angeblichen Täter schadete, sondern auch seinen Vater um die berufliche Existenz brachte. Der Psychologe hält für Lysander eine sehr praktische Methode bereit, das Schuldgefühl und die Erinnerung an den Moment der verübten bösen Tat durch etwas Harmloses zu ersetzen: Er nennt das „Parallelismus“, und diesen erschafft man sich, indem man sich etwas ausdenkt, was anstelle des realen Vorfalls stattgefunden haben könnte. Die Details zu diesem artifiziellen Parallelgeschehen schaffe die „Erzählfunktion“, über die jeder Mensch irgendwie verfüge. Boyd hat sich zur Bezeichnung dieser Erzählfunktion eines Begriffs von Henri Bergson (1859-1941) bedient, der „Fonction fabulatrice“, einer Art Unterabteilung der Fantasie, die uns erlaube, uns selbst Geschichten zu erzählen und die im Gegensatz zum Instinkt ein Merkmal der Intelligenz sei.
Diese „Fonction fabulatrice“ – ist das nicht die Rolle des Schriftstellers, des Erzählers: für uns eine Welt zu erfinden, die uns, je nachdem, mehr oder weniger bekannt vorkommt, so wie ein Traum?
Lysander erarbeitet sich mit dieser Methode eine neue, parallele Erinnerung und schafft es, jenen unliebsamen Aspekt seines Lebens zu verdrängen zugunsten eines möglichen anderen, harmonischen Vorgangs, der nun der Gültige wird. Wer sich heute erinnert, wie die Deutschen nach 1945 und auch nach 1989 mit ihren Erinnerungen an eigenes Tun in den Jahren vorher umgegangen sind, könnte da eine ganz unerwartete Idee haben:
Dieser Parallelismus war für deutsche Täter und Mitläufer nach den Totalveränderungen von 1945 und 1989 ja etwas ganz Ideales oder?
William Boyd, der sich stets bemüht, möglichst realistisch, also nah an der Wirklichkeit beziehungsweise an dem zu bleiben, was uns davon bekannt ist, lässt seinen Helden sogar einmal im Café auf Sigmund Freud treffen und lässt ihn auch noch mit dem großen Psychologen sprechen, als wäre diese Geschichte gewissermaßen dokumentarisch verbürgt. Ein charmanter Trick, mit dem uns Boyd immer weiter in seinen Roman hineinzieht. Und der wandelt sich nach und nach von einer komplexen Liebesgeschichte zum Agentenroman: Lysander meldet sich freiwillig in den Krieg, wird aber bald vom britischen Geheimdienst, in Gestalt der beiden Engländer, die ihm in Wien geholfen hatten, rekrutiert. Er taucht unter, um mit neuer Identität einen Verräter an der britischen Botschaft in Genf zu enttarnen.
Zurück in London, wird Lysander in der Zentrale des Geheimdienstes eingesetzt und entwickelt ungeahnte detektivische Emsigkeit. Im Dickicht von Täuschung und Verrat stößt er auf seine Mutter und ihre Freunde aus der besseren Gesellschaft. Lysander verfängt sich schließlich in einem tragischen Dilemma, aus dem ihn, wir ahnen es, letztlich sein neu erworbenes Instrumentarium der Psychologie retten wird. Ein ironisches Ende, eingeleitet von dem philosophischen Motto, dass es besser sei, zu schwindeln, wenn die Wahrheit große Zerstörung nach sich ziehe. Ein charmanter Roman, dessen Reiz auch darin besteht, dass bei aller Spannung immer wieder der Erzähler zu bemerken ist, der offensichtlich auch sein Vergnügen hatte an diesem Stoff.
ISBN: 9783827010667
http://www.berlinverlag.de/bucher/bucherDetails.asp?isbn=9783827010667