, William Boyd Eine große Zeit aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky
Berlin Verlag

Von William Boyd gibt es auf Deutsch schon längst eine ganze Reihe von hinreißenden und spannenden Romanen wie „Armadillo“ und „Einfache Gewitter“. Nun ist die deutsche Fassung eines weiteren Romans erschienen, der, ähnlich dem nach wie vor großartigen Roman „Ruhelos“, halb historisch ist, nämlich in einer Zeit spielt, die der unseren noch einigermaßen nah ist: 1912 in Wien. Dort fängt es an mit einem auf einer Parkbank liegengelassenen Hut und der Gewissheit, dass er schnell einen neuen Besitzer haben wird: Das ist das Erste, was wir von Lysander Rief erfahren, der sich hier aufhält, um sich eine sexuelle Störung psychologisch therapieren zu lassen. Lysander ist englischer Schauspieler, und man möchte meinen, er habe seinen Namen aus Shakespeares Mittsommernachtstraum. William Boyd hat aber an jemanden ganz anderes gedacht: an den Spartaner-General gleichen Namens, der zwei erfolgreiche Seeschlachten gegen die Athener schlug und dort die Demokratie abschaffen wollte. Boyd sagt, er liebe solche Namen, die eine gewisse eigene Spannung entfalten, „names that have a little spin, that are not dull but that intrigue by themselves“. Und Wien habe er als Schauplatz für seinen Roman ausgesucht, weil die europäische Moderne des 20. Jahrhunderts dort ihren Anfang genommen habe. Europas Zukunft habe sich damals in Wien versammelt, Trotzki war da, Adolf Hitler war da, und 1913 für sechs Wochen Josef Stalin. Und dann praktizierte dort Sigmund Freud als Psychoanalytiker. So sei Wien nicht nur eine außerordentliche Stadt, sondern auch noch ein außerordentlicher Nährboden für Gedanken gewesen.

In der Praxis von Dr. Bensimon trifft Lysander auf Hetty Bull, eine faszinierende temperamentvolle Künstlerin, mit der er ein Verhältnis beginnt. Sie kuriert ihn bald von seiner sexuellen Störung, zugleich sie ist liiert ist mit einem Bildhauer, der in der oberen Gesellschaft verkehrt, und dem Lysander nicht so gerne in die Finger geraten will, weil er angeblich zu Jähzorn neigt. Als sie schwanger wird, übt Hetty einen Verrat an Lysander: Er habe ihr Gewalt angetan. Mit dieser Anschuldigung bringt sie ihn sogar ins Gefängnis. Dass er wieder herauskommt, verdankt Lysander zwei zunächst etwas undurchschaubaren Briten, die sich in Wien aufhalten.

Ist der Verrat, den Hetty an Lysander begeht, denn auch ein Teil dieser Modernität unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert?

Dabei müsste Lysander, der Schauspieler, der auch Shakespeare gespielt hat, doch vom Theater her komplexe Persönlichkeiten kennen, wie Hetty eine ist, und er müsste darum gefeit sein gegen derart ambivalente Menschen. Hetty wäre dann nicht so gefährlich für ihn geworden.

Sie schildern Lysander als einigermaßen oberflächlich gebildet. Wäre er mit mehr – zumindest literarischer – Bildung bei Hetty nicht so in Gefahr geraten?

Lysander besucht weiter die Praxis von Dr. Bensimon. Es geht inzwischen um seinen Umgang mit einer Schuld, die er sich als Jugendlicher aufgeladen hat, übrigens auch eine Art Verrat: Er hat in seiner Kindheit einen harmlosen Jungen beschuldigt, sich an ihm vergangen zu haben, was nicht nur dem angeblichen Täter schadete, sondern auch seinen Vater um die berufliche Existenz brachte. Der Psychologe hält für Lysander eine sehr praktische Methode bereit, das Schuldgefühl und die Erinnerung an den Moment der verübten bösen Tat durch etwas Harmloses zu ersetzen: Er nennt das „Parallelismus“, und diesen erschafft man sich, indem man sich etwas ausdenkt, was anstelle des realen Vorfalls stattgefunden haben könnte. Die Details zu diesem artifiziellen Parallelgeschehen schaffe die „Erzählfunktion“, über die jeder Mensch irgendwie verfüge. Boyd hat sich zur Bezeichnung dieser Erzählfunktion eines Begriffs von Henri Bergson (1859-1941) bedient, der „Fonction fabulatrice“, einer Art Unterabteilung der Fantasie, die uns erlaube, uns selbst Geschichten zu erzählen und die im Gegensatz zum Instinkt ein Merkmal der Intelligenz sei.

Diese „Fonction fabulatrice“ – ist das nicht die Rolle des Schriftstellers, des Erzählers: für uns eine Welt zu erfinden, die uns, je nachdem, mehr oder weniger bekannt vorkommt, so wie ein Traum?

Lysander erarbeitet sich mit dieser Methode eine neue, parallele Erinnerung und schafft es, jenen unliebsamen Aspekt seines Lebens zu verdrängen zugunsten eines möglichen anderen, harmonischen Vorgangs, der nun der Gültige wird. Wer sich heute erinnert, wie die Deutschen nach 1945 und auch nach 1989 mit ihren Erinnerungen an eigenes Tun in den Jahren vorher umgegangen sind, könnte da eine ganz unerwartete Idee haben:

Dieser Parallelismus war für deutsche Täter und Mitläufer nach den Totalveränderungen von 1945 und 1989 ja etwas ganz Ideales oder?

William Boyd, der sich stets bemüht, möglichst realistisch, also nah an der Wirklichkeit beziehungsweise an dem zu bleiben, was uns davon bekannt ist, lässt seinen Helden sogar einmal im Café auf Sigmund Freud treffen und lässt ihn auch noch mit dem großen Psychologen sprechen, als wäre diese Geschichte gewissermaßen dokumentarisch verbürgt. Ein charmanter Trick, mit dem uns Boyd immer weiter in seinen Roman hineinzieht. Und der wandelt sich nach und nach von einer komplexen Liebesgeschichte zum Agentenroman: Lysander meldet sich freiwillig in den Krieg, wird aber bald vom britischen Geheimdienst, in Gestalt der beiden Engländer, die ihm in Wien geholfen hatten, rekrutiert. Er taucht unter, um mit neuer Identität einen Verräter an der britischen Botschaft in Genf zu enttarnen.

Zurück in London, wird Lysander in der Zentrale des Geheimdienstes eingesetzt und entwickelt ungeahnte detektivische Emsigkeit. Im Dickicht von Täuschung und Verrat stößt er auf seine Mutter und ihre Freunde aus der besseren Gesellschaft. Lysander verfängt sich schließlich in einem tragischen Dilemma, aus dem ihn, wir ahnen es, letztlich sein neu erworbenes Instrumentarium der Psychologie retten wird. Ein ironisches Ende, eingeleitet von dem philosophischen Motto, dass es besser sei, zu schwindeln, wenn die Wahrheit große Zerstörung nach sich ziehe. Ein charmanter Roman, dessen Reiz auch darin besteht, dass bei aller Spannung immer wieder der Erzähler zu bemerken ist, der offensichtlich auch sein Vergnügen hatte an diesem Stoff.

ISBN: 9783827010667

http://www.berlinverlag.de/bucher/bucherDetails.asp?isbn=9783827010667