, Lars Gustafsson Frau Sorgedahls schöne weiße Arme Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Hanser

Wie sich in der Erinnerung auch der konkreteste Vorfall verändert, wie die Wünsche, die Auffassungen und der perspektivische Eigensinn den Blick zurück beeinflusst.

Er ist ein heiter gelassener Erzähler, und er lässt einen heiter gelassenen älteren Mann erzählen, eigentlich könnte man sagen, Gustafsson erzählt seine eigene Jugendzeit, aber um das nicht zu deutlich werden zu lassen, um die Gelassenheit beizubehalten, setzt er auf die zweite Seite seines Romans die philosophische Hypothese: „Es gibt mich nicht. Ich habe niemals existiert. So einfach ist das.“ So kompliziert, oder: so spielerisch ist das.

Es ist die Geschichte eines Jungen im Schweden der 50er Jahre, der mit seinen Freunden die Welt und deren mögliche Verbesserung diskutiert, der seine ersten Liebesabenteuer mit einem Mädchen hat, das er am Sommerferienort in der Nachbarschaft kennenlernt, und der seine ersten erotischen Abenteuer irgendwie mehr in Gedanken erlebt – das Ganze eingepackt in die nachträglich abwägende Sicht eines älteren Professors, der Revue passieren lässt, was er erlebt hat und das gegen die späteren eigenen Erfahrungen stellt, der uns in einem humorvoll selbstironischen Tonfall mitnimmt auf diesem Rückblick. Auch bei Gustafssons Erzähler spielt der Glaube, hier in Gestalt „meiner frommen Pfingstgroßmutter“, eine Rolle, aber anders als bei Enquist oder Hoem fällt ihm die nur ein, weil er sich an den Geschmack der Zimtbirnen erinnert, als er das Kochbuch seiner Großmutter mit anderen Dingen, Fotos und Papieren, beim Aufräumen findet. Auch das ist schon länger her, wir folgen den unsortiert vagabundierenden Gedankengängen dieses Erzählers, der uns nur durch die Stimmung, seinen Tonfall, die leichte Art seiner Darstellung mitnimmt. Mit seinen Abschweifungen und deren Erörterung lässt er uns ein bisschen an Tristram Shandy denken, aber er ist eben ein Mensch von heute, der die Vorgänge unserer Wahrnehmung und Erinnerung überdenkt. Zum Beispiel bei der Erinnerung seiner Gefühle, als die schöne Nachbarin, Frau Sorgedahl, ihm, dem Knaben, ihre Katze auf den Schoß setzte und diese ausführlich streichelte – war er selbst mit dem Streicheln gemeint? Hat er das damals nicht gespürt? „In dieser Erzählung ist es, wie ihr hört, ein alter Mann, der spricht. Das bereitet mir fünfzig Jahre danach ein wenig Unbehagen. Sicher kann das Gegenwärtige das Vergangene verursachen und verändern! Nur die, welche nicht verstanden haben, dass das ganze Universum im Grunde genommen auf einmal gegenwärtig ist, glauben, dass Ursachen nur in die eine Richtung gehen. Wie oft habe ich nicht gesehen, dass Ereignisse, beispielsweise am Ende der achtziger Jahre, Dinge zutiefst beeinflusst haben, die mir in den fünfziger Jahren zugestoßen sind.“ Immer wieder lässt er uns wissen, dass noch Spannenderes kommen wird („Sture Westerberg, von dem ich in einem späteren Kapitel sensationelle Dinge erzählen werde“), schweift wieder ab und erfreut uns einfach mit seinem Redefluss. Zwischendurch fügt er sogar Geschichten seiner Mutter ein, die aber gar nicht richtig mit Anfang, Höhepunkt und Ende erzählen konnte, die vielmehr durch das Erzählen an sich ihren Sohn abbringen wollte von allem, was ihr nicht passte, zum Beispiel das Mädchen aus den Sommerferien. Hinreißend.

ISBN 3-446-23273-7
http://www.hanser-verlag.de/buch.asp?isbn=978-3-446-23273-0&area=Literatur