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Francesca Melandri
Kalte Füße
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024, 284 Seiten
Bei Francesca Melandri geht es um die großen Fragen Italiens im 20. Jahrhundert. Es ist phänomenal, wie die Autorin in ihren spannenden Romanen politische und gesellschaftliche Zusammenhänge anhand ihrer Helden zusammenfasst und darin ihre eigene Zeit reflektiert. Jetzt hat sie ein sehr persönliches Thema aufgegriffen und darauf verzichtet, es zu einem Roman umzugestalten: Es ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater.

Ein Vater erzählt vom Krieg, aber was er erzählt, ist unvollständig.
Dagegen: Eine Tochter, die lange Jahre später auf Umstände stößt, die die Erzählungen ihres Vaters grundsätzlich infrage stellen.
Eine Suche nach Wahrheit unter erschwerten Bedingungen.

Francesca Melandri ist für die Deutschen eine der größten italienischen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Ihre Romane sind spannend, beim Lesen folgt man ihren Helden mit Anteilnahme; man möchte wissen, wie es ihnen ergeht. Ihre Geschichten handeln auf gänzlich unspektakuläre Art von den großen Fragen Italiens im 20. Jahrhundert: Die Spätfolgen des italienischen Abessinienkriegs und das selbstgefällige Gehabe der Männer, die sich mächtig wähnen; die komplexe Geschichte Südtirols; oder die Begegnung zweier Fremder, als sie zu Besuch sind auf einer Gefängnisinsel.

Es ist phänomenal, wie sie in ihren Romanfiguren politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zusammentreffen lässt und damit ein zuverlässiges und schlüssiges Gesamtbild einzelner Aspekte ihrer Zeit Gestalt werden lässt. In „Kalte Füße“ nimmt sie sich eines Themas an, das sie selbst betrifft. Zumindest erzählt sie es so: Es geht um ihren Vater. Er gehörte zu den italienischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen in Russland kämpfen sollten. Und hier liegt für die Autorin bereits der erste Stolperstein: Es war nicht Russland, es war die Ukraine. Die ist jetzt schon wieder Schauplatz eines Eroberungskrieges. Erst will sie die Fakten zurechtrücken, dann hinterfragt sie die Darstellungen ihres Vaters, schließlich hinterfragt sie ihren Vater insgesamt.

Den Ausgangspunkt kennen die meisten: Wenn die Eltern gestorben sind, kommen Fragen auf, die man ihnen hätte stellen sollen, um manches an ihrer Haltung und ihrem Verhalten besser begreifen zu können. Francesca Melandris Vater war Journalist, er hat seine Kriegserlebnisse in drei Romanversuchen zu fassen versucht, von denen Melandri jeweils ein kurzes Zitat an die Anfänge ihrer Kapitel stellt.

Nur durch Zufälle und quasi irrationale Reaktionen hat ihr Vater das Gemetzel überlebt. Seine Erzählungen davon im Familienkreis erschöpften sich in Anekdoten. Erst als er gestorben ist, und dann verstärkt durch die politischen und militärischen Aktionen um die Ukraine, hat die Autorin angefangen, über die Orte, die Zeiten und die historischen Personen zu recherchieren, und fand einiges auszusetzen an den Darstellungen ihres Vaters. Dass es nicht Russland war, sondern die Ukraine, wo die Truppe ihres Vaters im Einsatz war, ist nur ein Aspekt ihrer umfassenden Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrer Darstellung. Einerseits fühlt sie sich nachträglich in die Irre geführt, andererseits hat sie ihren Vater liebgehabt, auch wenn er nicht perfekt war. So ist dies Buch ein kritisches und zugleich anerkennendes Portrait der Autorin für ihren Vater, zugleich eine Anregung an die, die ihr lesend folgen, das eigene Selbstverständnis und die angeblichen Gewissheiten zu hinterfragen.

ISBN 978-3-8031-3367-0

https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1419-kalte-fuesse.html