(Kehrseiten. Neues von den Unerwünschten)
Die Helden, die niemand jemals sieht
Jean-Marie Gustave Le Clézio erzählt von den Leidtragenden des abendländischen Egoismus
Im Frühjahr 2023 hat Jean-Marie Gustave Le Clézio mit der Geschichtensammlung Avers. Des Nouvelles des indésirables („Kehrseiten. Neues von den Unerwünschten“) Texte vorgelegt, in denen er Partei für diejenigen ergreift, die im Schatten unseres Wohlstands, unserer Freiheiten, unseres Wohlergehens stehen, also für diejenigen, die teilweise für unseren schönen Globalisierungsbetrieb noch nicht einmal ausgenutzt werden, auf deren Rücken unsere Lebensweise aber lastet.
Schon seinem ersten Buch, Le Procès-verbal - Das Protokoll, das ihn vor 60 Jahren auf einen Schlag bekannt gemacht hat, stellte Le Clézio einen besonderen Aspekt voran: „Zwischen Erzähler und Zuhörer gibt es ein Momentum, wo Vertrauen entsteht und konkret wird. Das ist vielleicht das Momentum des >aktiven< Romans, dessen wesentlicher Faktor eine Art von Inpflichtnahme wäre. Wo sich der Text mit etwas Handlung ins Vertraute einmischt.“
Ein verwandtes Credo findet sich auf dem hinteren Umschlag von Avers: „Für mich ist das Schreiben vor allem ein Mittel des Handelns, eine Art, Gedanken zu verbreiten. Das Schicksal, das ich meinen Figuren zuweise, wird ihnen kaum geneidet werden, da sie unerwünscht sind, und meine Absicht ist, beim Leser angesichts des Unrechts, das ihnen widerfährt, ein Gefühl der Auflehnung entstehen zu lassen.“
In diesen Erzählungen stellt der Literaturnobelpreisträger von 2008 jeweils die Schwächsten in den Mittelpunkt, die, die auf der untersten Stufe der Gesellschaft stehen und schon allein deshalb am meisten getreten werden: Straßenkinder, bettelnde Kinder, Verratene, wie sie gelegentlich Pasolini in Szene setzte oder wie sie schon Buñuel in seinem Film Los Olvidados im Jahr 1950 skizziert hat: die „Vergessenen“. „Aktiver Roman“ heißt, dass der Autor sich einsetzt für die Schwächsten, nicht, dass er aufruft zu irgendwie politischem Engagement, wie es andere Autoren getan haben. Le Clézio erzeugt in der Dialektik der Lektüre in denen, die das lesen, eine Art Engagement, nicht Mitleid, sondern Parteinahme für die Unterlegenen. So für den Indiojungen Yoni in der Erzählung „Etrebbema“, den ein Pastorenehepaar adoptiert hatte und der alles hinter sich lässt, um im Wald am Ursprung des Tuira-Flusses mit dem Mädchen Nepono als seiner Frau zu leben: „Das war ein zugleich hartes und schönes Leben. Er musste alles vergessen, was er bei den Declans gelernt hatte, und wiederfinden, was er in der Kindheit verloren hatte, vor allem die Sprache, das Waunana seines Vaters, und die Sprache der Embera, die Nepono sprach.“ In „Chemin lumineux - Leuchtender Pfad“ ist das Mädchen Chuche mit dem geistig zurückgebliebenen Juanito, der keine Worte, sondern nur Laute äußert, entlang dem Apurimac auf der Flucht. Unterwegs ernähren sie sich von dem, was sie finden und von den Coca-Blättern, die Chuche unter der Kleidung trägt. Sie waren Kindersklaven bei einem illegalen Coca-Anbau irgendwelcher Revolutionäre in der Region des Rio Huallaga in Peru. Chuche wurde von einem der Männer vergewaltigt und ist nun schwanger. Wenn Juanito sein Haupt auf Chuches Bauch bettet, entsteht eine anrührende Innigkeit zwischen den beiden, die schließlich in einer Siedlung von Verehrern der kanadischen Mohawk-Heiligen Kateri Tekakwitha Zuflucht finden.
In „La Pichancha“ erzählt Le Clézio von den als Straßenratten bezeichneten mexikanischen Kindern von Nogales, die durch einen Abwasserkanal in die USA kriechen, während die offizielle Grenze mehrere Meter hoch ist. So gelangen sie in eine Art unerreichbares Paradies, wo die Sprinkler der Vorgärten zu einheitlicher Stunde wohltuende Nebel versprengten Wassers wabern lassen, so dass die Kinder juchzend herumtollen, während ringsum aus Furcht die Jalousien herabgelassen werden und jemand kommt, der der Polizei den Standort meldet und dann aber in seinem breiten roten Auto flüchten muss, weil die wilde Schar der street rats Steine wirft. Chepo entdeckt Schuhe, die er für seine Freundin klaut, und Bravo setzt sich in den Schatten einer Parkanlage mit Spielplatz, wo er das Mädchen seiner Träume sieht, aber niemals anzusprechen wagen wird. Nach und nach werden sie alle von den Leuten der „Migra“ genannten Einwandererbehörde eingesammelt, teilweise misshandelt und noch am selben Tag wieder ausgeschafft.
Nur die titelgebende Geschichte ist etwas anders angelegt, melodramatisch in dem Sinn, dass es eine Art happy end gibt. Die Heldin dieser Erzählung, fast ein kleiner Roman, heißt Maureez Samson. Ihre Mutter starb, als sie noch ein Kleinkind war. Ihre Stiefmutter behandelt sie so schlecht, wie man es aus schlimmen Märchen kennt, insbesondere nachdem der Vater, ein Fischer auf der östlich von Mauritius gelegenen Insel Rodrigues, mit seiner motorgetriebenen Piroge auf See verschollen ist. Maureez schwänzt die Schule, wird immer dicker und bildet sich die Gegenwart einer Freundin ein, mit der sie redet. Sie läuft von zu Hause weg und wohnt in der Wildnis, findet Unterschlupf bei einem Fischer, der sie in ein Kloster bringt, und dann: wird ihre Stimme entdeckt. Es endet triumphal für Maureez als Sängerin. Während diese Geschichte etwas tränenrührig ist, entsprechen die übrigen sehr viel mehr dem Motto, dass Le Clézio für den Buchrücken verfasst hat: Wer sich diese Kinder und ihr Schicksal, so wie Le Clézio es schildert, zu Herzen nimmt, wird in Zukunft vernachlässigte, zerlumpte, aufsässig gestimmte Kinder, die, wie der Titel andeutet, auf der Kehrseite des Lebens existieren, etwas anders sehen. Von niemanden wird verlangt, die zu lieben oder sie aufzunehmen, auch der Autor wahrt seine Distanz, er erzählt bloß von denen, die in den schattigen Winkeln des kapitalistischen Glanzes westlicher und asiatischer Länder leben.
R.v.Bitter
ISBN 978-2-07-300890-9
https://www.gallimard.fr/Catalogue/GALLIMARD/Blanche/Avers