Hanser Verlag
Erst viele Jahre später setzt die Erzählung ein, der 16-jährige ist inzwischen in Paris gelandet und gehört, gewissermaßen als passives Bestandteil, der russischen literarischen Bohème um Montparnasse an. Passiv auch deshalb, weil er seinen Gedanken an die verlorene russische Heimat, wo er vergeblich gegen die Roten gekämpft hatte, mehr Platz einräumt als der Gegenwart. Er arbeitet als Journalist, er liest viel, und beim Lesen in einem Band englischer Erzählungen stößt er mit einem Mal auf eine Erzählung eines Mannes namens Alexander Wolf, der dieselbe Geschichte mit der Schießerei berichtet, aber als der andere Teilnehmer, den unser Erzähler damals für tot gehalten hatte. Der Verlag ist in London. Bei einem Besuch dort geht er zum Verleger, erfährt aber nicht viel. Dafür, wiederum einige Zeit später – das Interesse an Alexander Wolf ist nicht virulent, es ist die distanzierte Neugierde, jemanden zu treffen, der eigentlich tot sein müsste – kommt er in einem seiner russischen Stammlokale ins Gespräch mit einem Mann, der ein Kriegskamerad jenes Alexander Wolf gewesen war und der seine Frau an Wolf verloren hat. Auch danach bleibt die Suche nach Wolf eher ein Warten, während dessen uns der Erzähler von einem Boxkampf erzählt, über den er in der Zeitung schreiben soll. Ein Kampf, in dem ein überlegener Meister seinen Herausforderer gewissermaßen aus Höflichkeit die ersten paar Runden Schläge setzen lässt, um ihn dann gekonnt auszuknocken. Es schließt sich eine Liebschaft mit einer Frau an, die von früheren Liebschaften erzählt, immer drehen sich die Gespräche um das Überleben, um den Sinn des Sterbens und des Lebens, und das alles in einem schwermütigen Ton, der Lebensfreude in Sehnsucht und Verträumtheit ummünzt, ein bißchen, wie wir das aus Sandor Marais „Glut“ kennen. Und dann treffen sich die beiden Protagonisten der Schießerei in der russischen Steppe: Wolf erzählt, wie er zwar nicht sein Leben verloren habe, aber doch alle Gefühle und Begeisterung, die ihn damals erfüllt hatten. Auch er hatte gedacht, der Junge, der auf ihn geschossen hatte, sei längst tot, und nun öffnen sie sich einander in der Vertrautheit, die nur Menschen füreinander haben können, die voreinander nichts mehr zu verlieren oder zu vergeben haben. Und während sich unser Erzähler noch damit herumgeplagt hatte, ein Mörder zu sein, erkennt er in Wolf immer klarer, dass der tatsächlich und willentlich ein Mörder war und vielleicht noch ist, und dass ihn der Schuss, der ihn traf, bloß in seiner mörderischen Selbstgewissheit erschüttert hatte. Wieder folgt eine ganz andere Episode aus dem Leben des Journalisten. Irgendwann, das Treffen mit Wolf ist schon wieder im Hintergrund, fährt er zu seiner Freundin und trifft dort ein, als diese eine Eifersuchtsszene mit einem ehemaligen Liebhaber hat – und der war niemand als Alexander Wolf. Eine komplexe, in sich vielfach verknüpfte Geschichte. Gasdanow lässt seine Erzählung in dem Milieu spielen, in dem er lebte, mit Personen, wie er sicherlich welche gekannt hat – es ist die stille Seite der tollen 20er Jahre, es sind die Aspekte, in denen sich die Abgründe der Seele auftun, die die tagtägliche Betriebsamkeit sonst geflissentlich überdeckt und ausschließt. Das Faszinierende an diesem Buch ist, dass es die schweren Themen des Menschen so leicht und fast beiläufig zur Sprache bringt. Rosemarie Titze, die das so gelungen übersetzt hat, erzählt in ihrem Nachwort alles, was man nach diesem Buch unbedingt noch wissen will von diesem Autor. Ein echter Fund.
ISBN 978-3-446-23853-4
http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch.html?isbn=978-3-446-23853-4