Unionsverlag
Mia Couto hat daraus eine Geschichte gemacht, deren Helden zugleich bestimmte einander widersprechende Weltanschauungen vertreten. Er ist ein Meister darin, seine Figuren Haltungen verkörpern zu lassen, deren teilweise archaischer Hintergrund Raum schafft für eine Erhabenheit und Tragik, wie wir sie aus dem antiken Theater kennen – also irgendwie fremd und dabei so vital und wuchtig, dass es uns mitten in unserem eigenen Empfinden trifft. Es sind Helden von Fleisch und Blut, die ihr Verständnis der Welt reflektieren und sich dabei die Erkenntnis erarbeiten, die ihnen erst einfaches Bewusstsein und dann mentale Überlegenheit schafft. Der Jäger, Arcanjo Baleiro, ist selbst Sohn eines Jägers. Der Vater ist bei einem typischen Unfall ums Leben gekommen: Rolando, Arcanjos Bruder, hat den Vater beim Gewehrreinigen versehentlich getötet und erholt sich nicht mehr von diesem Trauma. Arcanjo wird der letzte sein in einer langen Familientradition.
Die andere Heldenfigur ist Mariamar. Ihre Schwester fiel dem Löwen zum Opfer. Sie hinterfragt ihre Welt, sie will die Wahrheit erfahren und ist dabei einer traditionellen Ordnung ausgeliefert, in der Mann und Frau, Tradition und Moderne, Macht und Unterlegenheit gegeneinander stehen. Mariamars Mutter will in die Stadt ziehen. „Wir sorgen dafür, dass sich jemand um die Gräber kümmert. – Umgekehrt Frau: Wenn wir weggehen, werden die Gräber sich nicht mehr um uns kümmern“, ist der Einwand des Vaters. Die Welt ist bevölkert von denen, die nicht mehr da sind: die ins Exil Gegangenen, die Geisteskranken, die Verstorbenen. Das Leben ist erfüllt von Zwängen, die sich die Menschen gegenseitig antun. Wie schon in „Das schlafwandelnde Land“ stellt Couto zwei Sichtweisen gegeneinander: Mariamars Version und das Tagebuch des Jägers.
Schauplatz ist ein winziges Dorf an einem Fluss irgendwo im Busch: „Triste Häuser, die Farben ausgeblichen, als bereuten sie, sich über den Erdboden erhoben zu haben.“ Mia Couto erzählt von der Jagd nach dem Löwen, von der Angst im Dorf, von den Verdächten der Bewohner untereinander, weil sie den Löwen auch menschliche Qualitäten zubilligen. Anschaulich und realistisch zieht uns der Romanautor in eine spannende Erzählung vom Leben im Busch.
Aber der Jäger hat nicht einfach mit einer Löwin zu kämpfen. Er bekommt es bei seiner Jagdexpedition zu tun mit einem Provinzpolitiker, der sich durch einen raschen Erfolg profilieren will, und mit einem Schriftsteller, der – vergleichbar mit einem Kriegsfotografen – von der „Löwenfront“ berichten soll. Aufgeklärt, urban, modern kommt er daher. „Er ist ein Städter, kommt nicht einmal mit dem Boden zurecht, auf den er die Füße setzt.“ Der Jäger verschafft sich Freiraum und versetzt den Städter in Angst. Der nimmt es philosophisch: „Wo Menschen Götter sein können, können Tiere Menschen sein.“ Dagegen der Jäger: „Der Löwe frisst nicht nur Menschen. Er verschlingt auch unser Menschsein.“
Mia Couto lässt in den Motti seiner Kapitel außerdem noch kleine Glanzlichter aufleuchten, die hier afrikanisch sind, die wir aber aus der abendländischen Philosophie kennen. Ein afrikanisches Sprichwort als Beispiel: „Solange die Löwen sich nicht ihre eigenen Geschichten ausdenken, werden in Jagdberichten immer Jäger die Helden sein.“ Geschichtsschreibung erzählt immer die Geschichte der Sieger.
So haben wir es hier mit einem Roman zu tun, der tief in die Register menschlicher Dramatik greift und zugleich eine spannende Geschichte ausbreitet von der Jagd nach einem mörderischen Wesen, das Löwe sein müsste, aber auch Mensch sein kann. Hier prallen Tradition und globalisierte Moderne, sachliche Logik und die Macht des Mythos aufeinander. Der Mensch ist aufs Elementare reduziert, so dass erhabene Tragik und große Gefühle entstehen, ohne überladen zu sein.
ISBN 978-3-293-00476-4