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Matthias Jügler
Maifliegenzeit
Roman
Penguin Verlag, München 2024, 160 Seiten
Matthias Jügler erzählt in diesem kurzen Roman von dem Unrecht, dass die DDR-Obrigkeit ihren Bürgern mit einer Kombination aus Niedertracht und Mitleidleidlosigkeit antat, in diesem Fall, dass ein Neugeborenes seinen Eltern unterschlagen wurde. Jügler erzählt das aus der Perspektive des jungen Vaters, der mit diesem Unglück alt wird und dann ein Wunder erlebt, ein schwieriges Wunder.

Die unglaubliche Gemeinheit, die ein Staat seinen Bürgern antun kann. Babydiebstahl - wie eine Mutter daran stirbt und ein Vater resigniert. Eine Geschichte, die leicht daherkommt, um sich als Tragödie zu entfalten.

Zunächst ist es eine traurige, tragische Geschichte, wie sie hoffentlich nicht oft passiert und wie man sie sich tragischer kaum vorstellen kann: Ein Kind kommt tot auf die Welt. Ein Trauma, mit dem sich die Eltern herumschlagen, insbesondere, wenn sie nicht herausfinden können, was dazu geführt hat. Die Mutter hat Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ärzte, der Vater ist nur ratlos. Das Leben geht darüber hin, der Vater wirft sich immer wieder neu vor, damals nicht entschieden genug reagiert zu haben. Nachgefragt zu haben, offen gezweifelt zu haben. Er findet zu sich selbst, indem er angeln geht, wie sein Vater das schon immer getan hat. Überhaupt, wie der Titel schon andeutet, spielt das Angeln und das Leben der Fische in fließenden Gewässern eine große Rolle. Als sei es eine Gegen- oder vom Menschen abgeschiedene Welt, in die er mit Geschick und Ertrag eingreifen kann, obwohl sie ihm verschlossen bleiben wird. Es sind Reminiszenzen der eigenen Kindheit, die dem Erzähler beim Angeln und Lauern auf den richtigen Fisch aufkommen. So auch der Wunsch seiner Mutter, dass er und seine beiden Geschwister „ihren Platz in der Welt beanspruchen. Genauso sagte sie es und lächelte dabei. Als meine Mutter starb, konnte sie auf ein langes Leben zurückblicken. Meiner Frau blieb dieses Glück verwehrt, meinem Sohn ebenso. Jedenfalls dachte ich das bis vor einem Jahr.“ Als wäre ein Stein ins Wasser geworfen worden, endet das beschauliche Angleridyll abrupt. Der Erzähler kommt aber immer wieder darauf zurück, als gebe ihm das einen Halt bei dem, was er in Wahrheit zu berichten hat. Nämlich die Geburtstragödie, mit der er sich, weil er den Ärzten als Autoritäten glaubte, abgefunden hatte.

Seine Frau kommt über ihre Zweifel nicht hinweg und wird ihn verlassen. Jetzt ist er 65, seine neue Lebensgefährtin 62. Als er vom Angeln zurückkommt, hat sie eine Nachricht für ihn. Daniel habe angerufen, das Kind, dass seit 40 Jahren angeblich tot war.

Matthias Jügler illustriert anhand seines Erzählers die in der DDR offenbar mögliche Praxis, Neugeborene ihren Eltern wegzunehmen, um sie anderen Personen, seien es Bonzen oder zahlende Kunden, zur Adoption zu übereignen. Sohn Daniel hat angerufen, weil er endlich begreifen will, warum ihn seine Eltern weggegeben haben. Der Vater, noch ganz befangen in dieser doch eigentlich glücklichen Unvorstellbarkeit, in der Ungläubigkeit an dieses Wunder, ist wie vor den Kopf gestoßen. Für ihn hatte es sich anders dargestellt. Er rekapituliert, wie er versuchte, nach dem Zusammenbruch der DDR die Akten einzusehen und wie ihm dies auch noch nach der Wende schwierig gemacht wurde, bis dann allgemein Akteneinsicht möglich war. Was nach und nach herauskommt, ist die kalte Niedertracht, mit der von offizieller Seite die Bürger behandelt wurden. Das Autoritäre, das vielleicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegolten haben mag, aber in Westdeutschland nach und nach überwunden wurde, herrschte in der DDR offenbar weiter. Jügler erzählt diese Geschichte mit einer Einfühlsamkeit, die in die Welt seines Protagonisten hineinzieht, so dass das tragische Dilemma, der Vorwurf des Sohnes, verstoßen worden zu sein, und die Hilflosigkeit des Vaters, beraubt worden zu sein, gegeneinander stehen. Eine tragische, fesselnde, faszinierende Geschichte mit einem hart erkämpften happy end.

ISBN 978-3-328-60289-7

https://www.penguin.de/buecher/matthias-juegler-maifliegenzeit/buch/9783328602897