Es sind lauter kurze, zum Teil entlegene oder auch ganz private Dokumente, die ein Gefüge bilden, ein Gesamtbild, das nicht vollständig sein will und auch gar nicht sein kann. Dabei miterwähnen muss man Alexander Kluges wissenschaftlichen Mitarbeiter, den Literaturwissenschaftler Thomas Combrink, der wahrscheinlich vieles beigetraten hat zu diesem Buch.
Ist das also ein Mosaik, das sich aus all diesen Elementen zusammensetzt, ist das ein Kaleidoskop, das sein Aussehen bei jeder Bewegung verändert, so dass es je nach Leser etwas anderes zeigt?
Man könnte es verstehen als Versuch, die große Geschichte als Summe vieler kleiner Geschichten zu deuten, ein Magma, von dem wir einige Partikel identifizieren können.
Vor vielen Jahren haben Sie Cesare Zavattini als einen benannt, der die vielen kleinen, scheinbar unwichtigen Ereignisse als die wahren Elemente der großen Geschichte benannt hat.
Neben dem Lebensgefühl des 13-jährigen Alexander Kluge, das er als Autor erinnert, finden sich Fluchtgeschichten, Erzählungen vergessener Krieger und zuweilen regelrecht komische, oder tragikomische Ereignisse, z. B. wenn der Philosoph Heidegger sich zwar auf einen Berg, in die Abgeschiedenheit von Burg Wildenstein, zurückgezogen hat, aber trotzdem einschnappt, als die vorüberziehenden Franzosen ihn nicht beachten. Die Autobauer in Wolfsburg, die sich übergangen fühlen, weil sie noch nicht auf der Agenda der amerikanischen Sieger sind. Komödienfähig ist die Szene, in der ein deutscher Feldmarschall gekränkt ist, weil niemand ihn gefangen nehmen will, da er schon keine Bedeutung mehr hat.
Es finden sich immer wieder Stellen, Anekdoten, die belustigen – da zeigen Sie die Komik im Tragischen, den Witz
Zwischendurch führt die Schilderung eines Zustands oder Ereignisses in die Form eines Dialogs, aber in der Art, wie man sie von Denis Diderot kennt, der mit leichten, tänzelnden Wortwechseln die Ideen der Aufklärung veranschaulichte.
Sind Diderots im Sinn der Aufklärung philosophische Dialoge ein Vorbild für dies Buch gewesen?
Wer denkt an „Werktag“, wenn vom damals so genannten „Zusammenbruch“, von
der endgültigen Niederlage der Deutschen und des NS-Staats die Rede ist?
Kluge beschreibt daneben die scheinbare Idylle in der Schweiz, und wie sich
in San Francisco die Vereinten Nationen formieren, und zwar jeweils an dem
einen 30. April 1945.
Indem er in seinem Buch voneinander unabhängige lokale und globale
Verhältnisse beschreibt, führt Alexander Kluge entlegene Stimmen zu unserer
Wahrnehmung. Michel Butor, der französische Romancier, hat in seinem Roman
"Dégrés" auch so eine Methode angewandt: Irgendwo eine winzige Stelle, von
der aus man in Zeit und Raum in tausend Verästelungen weitergehen kann, bis
man die ganze Welt erfasst hat.
So könnte man den Tag des 30. April 1945 als Ausgangspunkt nehmen, von dem aus sich alles ergibt und erweist, von wo aus man in alle Richtungen zeitlich und räumlich ausgreifen kann.
Während Essayisten konventionellerweise Einzelheiten und Argumente zu stringenten Gedankengängen fügen, stellt Kluge die Einzelheiten zu- und aneinander und gegeneinander und lädt uns ein, lockt uns, verleitet uns zu eigenen Überlegungen und Schlüssen.
Sie hätten auch einen Essay schreiben können.
Dazu lädt Alexander Kluge noch andere, literarische Autoren ein, etwas zu seinem Projekt beizutragen.
Was ist das für eine Methode?
So entwickelt sich durch den und im Leser so etwas ähnliches wie ein Essay, ein Gedankengang, zugleich könnte man das Buch verstehen eine Aufforderung an uns zu einer Art Vorbeugearbeit, durch die ersichtlich werden soll, was Krieg eigentlich bringt, was Diktatur bringt, und was wir an unserer Gesellschaftsstruktur insgesamt haben, so viel man daran in Einzelheiten auch auszusetzen haben mag.
ISBN: 978-3-518-42420-9
http://www.suhrkamp.de/buecher/april_-alexander_kluge_42420.html