, Per Olov Enquist Ein anderes Leben Carl Hanser Verlag

Schon in dem Roman, der bei uns so großen Erfolg gehabt hat, Der Besuch des Leibarztes, ist es dieser besondere, kreisende, quasi tastende Tonfall, der eine gewisse Unsicherheit, auch Unbestimmtheit in sich trägt, und der bei einem historischen Roman als Folge des zeitlichen Abstandes aufgefasst werden kann. In Lewis Reise geht es um die gewaltige Glaubensbewegung der „Pfingstler“, die in Schweden in der Arbeiterschaft wirkte, und die auch die Mutter des Autors, oder zumindest des Erzählers in dem Buch, erfasst hatte.

In diesem Buch, dessen Titel an Derek Walcotts großes karibisches Epos Another Life erinnert, erzählt Enquist von sich selbst, von seiner gläubigen und strikten Mutter, der Kindheit ohne Vater, der ihm aber immer wieder präsent wird in seinem Empfindungen, wie er sich, als Sohn der Dorflehrerin, durch Gymnasium und Studium weit aus der Welt seiner Familie hinausbewegt, ähnlich seinem Onkel, der einmal einen besonderen Fuchs in Stockholm ausgestellt hatte, was eine halbe Weltreise gewesen war.

Immer scheint Ihr Vater präsent zu sein – an was für Momenten haben Sie ihn vergessen?

Enquist beschreibt sich als einen lieben Jungen, der Probleme damit hat, nur lieb zu sein. Als Kind erfindet er sich Sünden, die er seiner Mutter beichten kann, oder bringt als ständiger Überläufer bei Schneeballgefechten in der Schule die Schlachtordnung durcheinander, als erwachsener Autor verursacht er, in scheinbar vollkommener Harmlosigkeit, wirksame Skandale, zum Beispiel mit seinen Büchern über die an Stalin ausgelieferten Litauer oder die Verquickung von Sport und Macht, schließlich die Zeit seiner Alkoholabhängigkeit. Den Schluss des Buchs bildet seine Überwindung des Alkoholismus, vor dem die Mutter auch schon in „Lewis Reise“ so eindringlich warnt. Er befreit sich davon aus eigener Kraft, durch das Schreiben.

Würden Sie, nach diesem Buch, einen bedeutenden Aspekt Ihres Lebens als einen Kampf gegen das „zu lieb sein“ bezeichnen?

Weil sein älterer Bruder gestorben war, und weil es in der Wochenstation eine Säuglingsverwechslung gegeben hatte, plagt sich der Junge mit Identitätsfragen und überlegt auch später immer wieder, was ihn unterscheidet von anderen, was ihn so „anderst“ macht. So ist dies Buch nicht nur die Lebensgeschichte des Autors Enquist, sondern auch die Geschichte eines ewigen Zweifels. Immer wieder kommt die Frage nach der Identität auf, und daraus entwickelt sich der Gedanke „anderst“ zu sein.

Was heißt es für Sie „anderst“ zu sein, dieses Wort, das im Text so schwedisch klingt?

Was aber dies Buch so faszinierend macht, ist dieses Suchen, dieses unsichere, immer wieder neu ansetzende, wie Farbtupfer emotional insistierende Wiederholen, das diese gesamte Lebensbeschreibung zu etwas Zerbrechlichem macht, und das uns immer mehr in Bann schlägt, so dass wir selbst anhand der Fragen und Unsicherheiten des Autors anfangen, unser eigenes Leben in Augenschein zu nehmen, und das macht dies Buch so bereichernd.

Und noch etwas: Früher war Enquist Hochspringer von europäischem Format. Nach der Aufzeichnung seiner Antworten erzählte er uns, dass er sonst immer gefragt werde, wie hoch er denn früher gesprungen sei. „Wie hoch denn?“ – „1 Meter 97“ – „Und wie groß sind Sie?“ – „1 Meter 96.“

Welches Leben möchten Sie denn?

ISBN 3-446-23270-2
http://www.hanser-verlag.de/buch.asp?isbn=978-3-446-23270-9&area=Literatur